Nicht einmal ein Jahr vor der Machtübergabe an Hitler veröffentlichte Irmgard Keun »Das kunstseidene Mädchen – einen Roman, der »feministisch« durchgespielt hat:
Protagonistin Doris (18) verdient eigenes Geld, liebt hübsche Hüte, Sekt und Tanz-Abende, durchschaut jeden Mann und sie träumt davon, »ein Glanz« zu werden. Sie möchte auf der Bühne stehen, reich und berühmt sein und von allen bewundert werden. Auf dem Weg ins Rampenlicht begegnen ihr jedoch immer mehr Frauen, die im absoluten Elend leben – ungewollt schwanger sind, unglücklich verheiratet oder sich prostituieren müssen. Und Doris kümmert sich.
Unsere Crew kommt in der emotionalen Wildwasserfahrt von Keuns Roman kaum zu Atem. Ein letztes Mal vor der Sommerpause fragen wir: »Gehört sowas (noch) in den Lehrplan…?«
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Alle Songs, die Doris im Roman feiert, findet ihr in unserer Playlist:
Gebt euch den kompletten Weimarer-Republik-Party-Remix!
1 Antwort auf „#78: Irmgard Keun – Das kunstseidene Mädchen 💃🏻“
Liebe Laberfächler*innen,
es freut mich wirklich, dass ihr alle dem „kunstseidenen Mädchen“ so viel abgewinnen konntet. Mir ging es leider nicht so, allerdings hat mir eure Folge ein paar neue Zugänge aufgezeigt, die meine Erinnerung daran im Nachhinein in ein etwas positiveres Licht zu rücken vermögen.
Meine schlechten Erfahrungen mit dem Werk sind wohl darauf zurückzuführen, dass es in Niedersachsen 2022 prüfungsrelevante Pflichtlektüre für die zehnten Klassen an der Gesamtschule war. Den meisten Schüler*innen bereitete es zum einen sprachlich enorme Schwierigkeiten, den dialektal gefärbten, oft in zeitgenössischer Umgangssprache verfassten, sprunghaften Gedanken der Ich-Erzählerin überhaupt einen Sinn zu entnehmen; besonders, was Schüler*innen mit nichtmuttersprachlichem Background angeht, bin ich daher ganz bei Julia. Zum anderen fiel es vielen nicht leicht, sich in irgendeiner Form mit Doris zu identifizieren, da sie ihre Entscheidungen, insbesondere hinsichtlich ihrer Lebensführung, zum Beispiel aber auch den Diebstahl des Pelzmantels oder das Einsperren ihrer Konkurrentin, meist überhaupt nicht nachvollziehen konnten und sie daher als naiv und selbstsüchtig charakterisierten. Ihre Promiskuität sowie ihr leitmotivischer Drang, ein „Glanz“ werden zu wollen, spielten bei der Urteilsfindung eine nicht unbedeutende Rolle. Daher habe ich mich gefragt, weshalb „Das kunstseidene Mädchen“ deutschlandweit in den Lehrplänen und Schulbüchern solch einen Hype erlebt. Schließlich gibt es eine Menge thematisch oder stilistisch ähnlicher einigermaßen zeitgenössischer Werke (z. B. Margarethe Böhmes „Tagebuch einer Verlorenen“, Arthur Schnitzlers „Fräulein Else“ oder Artur Landsbergers „Lu, die Kokotte“), die Schüler*innen gegebenenfalls schon allein auf sprachlicher Ebene eher einen Zugang ermöglichen könnten. Vermutlich hängt mein Eindruck wirklich stark davon ab, dass es etwa fünfzehnjährige Gesamtschüler*innen waren, mit denen ich „Das kunstseidene Mädchen“ lesen durfte. Nun ist es aber in Niedersachsen auch für das Abitur 2026 Pflichtlektüre und ich werde unbedingt mal meine Kollegin fragen, die es just unterrichtet haben müsste, welche Erfahrungen und Eindrücke sie dabei sammeln konnte. Denn ich kann mir gut vorstellen, dass Achtzehn- und Neunzehnjährige eher etwas damit anzufangen wissen. Jedenfalls fand ich gerade euren Hinweis, die Lektüre als Diskussionsansatz über (auch aktuelle) gesellschaftspolitische Themen zu verstehen, sehr hilfreich und fühle mich nun weitaus besser gerüstet, falls ich selbst noch einmal in die Verlegenheit kommen sollte, sie zu unterrichten.
Vielen Dank für zweienhalb Stunden gute, wenn auch diesmal etwas kontroverse Unterhaltung und schöne Ferien,
David